Eberhard Göpel, Hochschulen für Gesundheit e.V., Berlin
Mit der gesellschaftlichen Etablierung der Gesundheitsförderung als einer systemischen Praxis der gesundheitlichen Entwicklungsförderung und mit einer zunehmenden Professionalisierung der Akteur/-innen steigt die Versuchung, die in der Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung skizzierten systemischen Veränderungsprozesse zu einer linear wirksamen Sozialtechnologie zurechtzustutzen und als ein entsprechend konfektioniertes Leistungsangebot für standardisierte soziale Veränderungsprozesse zu vermarkten.
Diese Versuchung wird vor allem durch ein Interesse von Kostenträgern stimuliert, zur verwaltungsmässigen Vereinfachung Programme eines „Gesundheitsmanagements“ mit umfassender Wirksamkeits -Garantie zu bevorzugen.
Die Kernidee partizipativer sozialer Verantwortung in der Gesundheitsförderung wird dabei häufig auf formalisierte Befragungen zu vorgegebenen Massnahmen reduziert, um die in Aussicht gestellte Ergebnis-Erreichung nicht zu gefährden und keine Risiken im Prozessverlauf einzugehen.
Ein derartiges, risikominimiertes „Gesundheitsmanagement“ ist aber abwegig und irreführend. Abwegig deswegen, weil es bei der Gesundheitsförderung nicht um einen pädagogischen Dressurakt geht, der mit verhaltenspsychologischen oder verhaltensökonomischen Tricks „gemanagt“ werden kann, sondern vor allem um ein kreatives, stimmiges Arrangement von komplexen Kommunikations- und Verständigungsprozessen zwischen Menschen mit einem Eigensinn, den diese sich zu erhalten trachten werden. Irreführend deswegen, weil der „Goldstandard“ der Gesundheitsförderung etwa im Unterschied zu den Wirkungsprüfungen von Pharmaka in der Medizin darin besteht, den Beteiligten die Augen zu öffnen, damit sie für die in Frage stehenden Veränderungsprozesse Verantwortung übernehmen können und möglichst wenig dem Zufall überlassen wird. Hier lohnt es sich, immer wieder die prozessbezogene, systemische Begriffsbestimmung der Gesundheitsförderung in der Ottawa-Charta in Erinnerung zu rufen.
Gesundheitsförderung ist in diesem Kontext ausdrücklich auch ein Programm zur Re-Sozialisierung der Medizin („Reorient Health Services“), verbunden mit der Aufforderung, dort personale Verantwortung zu übernehmen, wo es primär um die Ermöglichung eines kohärent-sinnhaften Verständigungsprozesses geht. Das eigene Leben ist uns (und zum Glück auch Anderen) nicht beliebig verfügbar. Von Paul Virilio stammt der Hinweis, dass das Leben zwar ggf. rückblickend verständlich werden kann, aber leider vorwärtsblickend gelebt werden muss. Es ist daher notwendigerweise mit vielfältigen Ungewissheiten und Risiken, aber mehr noch mit vielfältigen Chancen und Möglichkeiten verbunden, mit denen wir umzugehen haben.
Gesundheitsförderung thematisiert vor allem die latenten, zur Wirklichkeit drängenden Potentiale gesünderer Lebensweisen und Lebenswelten. Dieser Entwicklungsimpuls bildet die motivationale Kraft, Chancen auf ein subjektiv und sozial stimmigeres Leben auch bei Widerstand und Konflikten zu suchen. Risikoabschätzungen in verschiedenen Dimensionen relevanter Alltags- und Zukunftsbezüge können dabei vor Leichtsinn und Fahrlässigkeit bewahren. Dies gilt in gleicher Weise für die persönliche wie für die professionelle Lebensführung.
Die in diesem quint-essenz-Newsletter vorgestellten Aspekte einer systematischen Risikoanalyse für die Planung und Durchführung von Programmen zur Gesundheitsförderung sensibilisieren für die Komplexität von sozialen Transformationsprozessen, deren Erfolg vor allem von der Zustimmung und Mitwirkung der Akteur/-innen abhängig ist. Wer die umfangreiche Liste möglicher Problemkonstellationen in dem Beitrag zur Risikoanalyse liest, kann allerdings leicht den Mut verlieren. Es erscheint mir daher wichtig, jeweils eine komplementäre Chancenliste mental mitlaufen zu lassen, um das Bild zu runden und persönliche Handlungsmotivationen zu stärken.
Die Praxis der Gesundheitsförderung benötigt einen gerechtfertigten Überschuss an erfahrungsgesättigtem Optimismus, dass sich hinter vielen Risiken und Krisen auch Chancen und neue Möglichkeiten eröffnen können. Die Gliederung von entsprechenden Bilanzierungen etwa in der Form einer SWOT- oder Kräftefeld-Analyse kann z.B. zur Einübung eines prozessorientierten 360 Grad Blicks genutzt werden, der für den Umgang mit vielfältigen Ungewissheiten neben einer erfahrungsgesättigten Intuition die Grundlage für eine optimistische Gelassenheit bilden kann.
Die nachfolgende Darstellung von Ralph D. Stacey (1999) macht deutlich, dass Gewissheit und Sicherheit nur zu haben sind, wenn frau/man sich möglichst dicht an tradierte Standards hält.
Die eigentlich interessanten, komplexeren Fragestellungen erschliessen sich aber nur, wenn wir die damit verbundene höhere Ungewissheit und den Abstand zum „Main stream“ bewusst in Kauf nehmen. Chancen- und Risiko-Analysen können zur Erschliessung einer komplexeren Praxis der Gesundheitsförderung beitragen und einer drohenden Trivialisierung sozialer Gesundheitspraktiken entgegenwirken.
Im Land der BergsteigerInnen kann dies vielleicht einen Anreiz bilden, der Aussicht auf Gipfelblicke nicht aus dem Weg zu gehen.
Literaturhinweise
Stacey R. D. (1999). Strategic management and organisational dynamics: the challenge of complexity. New York: Financial Times/Prentice Hall.